Photo by Mikael Colville-Andersen (CC BY-NC 2.0)
Unsere Fundamente in der COVID-19-Pandemie – eine stadtplanerische Perspektive
Interview mit Flora Fessler
Geführt von Linda Dreier
Seuchen und Krankheiten in Städten sind nichts Neues. Trotzdem hat die COVID-19 Pandemie in ihrem nie dagewesenen Ausmaß viele Branchen vor neue Herausforderungen gestellt, so auch die Stadtplanung. Wir haben uns mit Flora Fessler, CAV-Stipendiatin 2015 und Urban Designerin bei MetroLab, einem Think Tank und Beratungsdienst für die integrierte urbane Entwicklung von Metropolen und Stadtregionen in Wien, getroffen, um über die Thematik zu sprechen.
Flora Fessler, Urban Designerin
Linda: Die Stadtplanung schafft den gestaltenden, technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Grundstein für unser Zusammenleben in städtischen Agglomerationsräumen. Wie siehst du die Rolle von Stadtplaner_innen in der Anpassung an neue Gegebenheiten aufgrund der Pandemie?
Flora Fessler: Beginnend mit dem Lockdown wurde in Fachkreisen sehr viel über die möglichen Auswirkungen einer Pandemie auf die Stadtbevölkerung und die Art und Weise, wie urbane Räume derzeit und in Zukunft gestaltet werden sollen, spekuliert. Doch anstatt wage Thesen zu formulieren und den Diskurs ausschließlich unter ExpertInnen voran zu treiben, gab es in einzelnen Ländern – allen voran Dänemark – Bestrebungen, genauer hin zu sehen und das COVID-19 bedingt veränderte Verhalten der StadtbewohnerInnen bis ins Detail zu untersuchen. Stadtplanung kann und soll, meiner Meinung nach, ganz generell und insbesondere in so einer Krisensituation nicht von der Verhaltens- und Stadtforschung getrennt werden. Es sind vor allem Fragen der Raumaneignungsstrategien unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und der spezifischen Aushandlung ihrer partikulären Interessen, die die Funktionsweise eines Raumes in Erscheinung treten lassen. Fragen wie „ist dies ein intensiv genutzter Platz, Park, oder Radweg? Wer hält sich wann und für welchen Zweck dort auf?“ sind analytische Grundüberlegungen von StadtplanerInnen, die in weiterer Folge handlungsanleitend sind. Daher sehe ich meine Profession nicht nur in der Verantwortung, sich auf der Grundlage fundierter Beobachtungen über (verändertes) Raumverhalten und (neue) Lebensbedingungen ausreichend Gedanken zu machen, sondern auch vom Denken ins Tun zu kommen. Deshalb arbeite ich auch in einem Think Tank, der sich gleichzeitig als Do Tank versteht und räumliche Strategien kontextsensibel mittels ortsbezogener Lösungen umsetzt.
Homeoffice und -schooling haben unseren Alltag nachhaltig geprägt und erste längerfristige Auswirkungen sind bereits erkennbar. Was wird sich insbesondere in der Stadtplanung verändern, um in Zukunft Pandemie-resistentere öffentliche und private Räume zu schaffen?
Auch wenn sich in der Stadtplanung diesbezüglich einiges ändern muss, so ist auch die Politik in die Pflicht zu nehmen. Ob sich zum Beispiel ein Pop-Up Radweg, der während der Pandemie eingerichtet wurde, auch längerfristig erhalten lässt, ist oft nicht die alleinige Entscheidung von uns PlanerInnen – wir können Möglichkeitsräume aufzeigen und zu Experimenten ermutigen. Ob diese dann schließlich angenommen werden, zeigt sich erst in einem langen Prozess der Bestärkung und Sensibilisierung dafür, dass Stadtbürgerinnen für ihre Rechte, Freiraum und Wohnraum betreffend, eintreten. Darunter, krisenresiliente Städte zu schaffen, verstehe ich vor allem, sich angleichende Bedingungen für zumindest einen Großteil der Stadtbevölkerung zu schaffen. Sei es für leistbaren Wohnraum einzutreten (der selbst in post-pandemischen Zeiten einer flexiblen Nutzung – Wohnen, Arbeiten und Freizeit an einem Ort vereint – standhalten können muss), oder qualitativ hochwertige und großzügige Grün-, Frei- und Spielräume für alle zur Verfügung zu stellen.
Die finanziellen Auswirkungen der Pandemie trafen vermehrt Menschen, die bereits prekär leben. Besonders Frauen, die die meiste Pflegearbeit leisten, werden unfair entlohnt und bleiben zumeist unsichtbar. Wie kann die COVID-19 Krise auch eine Chance sein, gendergerechtere Städte zu bauen?
Die Pandemie hat vieles sichtbar gemacht, dem bislang zu wenig Wichtigkeit beigemessen wurde. Insbesondere im Bereich der Mobilität wurden personenbezogene Bewegungsmuster vermehrt auf ihre Hintergründe befragt. Einem Mangel an Indikatoren wie „Geschlecht“ in Mobilitätsanalysen ist es zuzuschreiben, dass die weibliche Mobilität und ihre Muster, Zwecke und Verkehrsmittel (die im Allgemeinen öffentlicher und nachhaltiger sind) so lange unterschätzt wurden. Es sind vor allem Frauen, nie nicht nur intensiv in die Pflegearbeit eingebunden sind (und Wege zur Arbeit, zum Supermarkt, zur Schule, dem Kindergarten, zur Apotheke etc. zurücklegen), sondern dies – im Gegensatz zu Männern – oft mittels nicht motorisierter Verkehrsmittel tun. Auch wissen wir mittlerweile, dass (ganz unabhängig vom Faktor Geschlecht) nur 20% der zurückgelegten Strecken in großen Metropolen berufsbedingter Natur sind, verglichen mit fast 40%, die im Zusammenhang mit Pflegezwecken stehen. Die sogenannte „mobility of care“ lenkt das Augenmerk somit einerseits auf die wertvolle systemerhaltende Funktion von Pflegepersonal, und andererseits auf den dringenden Bedarf, aktive Formen der Mobilität (insbesondere das Zufußgehen und Radfahren), beispielsweise mittels einer fairen Verteilung und einfacheren Zugänglichkeit von Mobilitätsressourcen, zu fördern. Der Anspruch, gendergerechte Städte zu bauen, sollte darüber hinaus in Richtung eines intersektionalen Ansatzes, der nicht nur Geschlecht, sondern auch Ethnizität, Alter, Erwerbsstatus etc. berücksichtigt, ausgeweitet werden. PflegearbeiterInnen sind während einer Pandemiesituation beispielsweise mehrfach benachteiligt, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Arbeitssituation und nicht zuletzt wegen ihres ungedeckten Mobilitätsbedarfes.
„Nur 20% der zurückgelegten Strecken in großen Metropolen sind berufsbedingter Natur, verglichen mit fast 40%, die im Zusammenhang mit Pflegezwecken stehen.“
Flora Fessler zur Mobilität der SystemerhalterInnen