CAVreitag: Kanton „Übrig“ mit Meinrad Pichler
2019 jährt sich die Volksabstimmung über den Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz zum 100. Mal. Ein guter Anlass, die letzten Jahrzehnte dieses außergewöhnlichen Nachbarschaftsverhältnisses noch einmal Revue passieren zu lassen. Als Gast der 5. Karfreitagsveranstaltung begrüßte der Club Alpbach Vorarlberg (CAV) den bekannten Vorarlberger Historiker Meinrad Pichler zum Kamingespräch in der Bibliothek der FH Vorarlberg. Sowohl für Organisation als auch Moderation gilt es Jahr für Jahr, dem langjährigen CAV-Mitglied Hannes Tschütscher zu danken.
Der 27. Kanton?
Nach dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie stand Vorarlberg vor der entscheidenden Frage, zu welchem Staat es künftig gehören sollte und wollte. Während in Wien die „Republik Deutsch-Österreich“ gegründet wurde, entstand in Vorarlberg eine Bewegung, die den Anschluss an die Schweizer Eidgenossenschaft befürwortete. Im Mai 1919 stimmten 81 Prozent der Wahlberechtigten für die Aufnahme von entsprechenden Verhandlungen mit der Schweiz. Die Hintergründe dieser Entwicklungen sind vielfältig. Während des Kamingesprächs wurden gemeinsam mit Meinrad Pichler nicht nur die Anschlussbewegung und deren Wurzeln beleuchtet, sondern auch die Entwicklung des Verhältnisses in den letzten Jahrzehnten.
Eine Bewegung mit einem charismatischen Redner
Mit Ende des ersten Weltkrieges blieben die Lebensbedingungen der Vorarlberger Bevölkerung weitgehend unverändert: Lebensmittel wurden rationiert, die Zeiten waren unruhig und das Vertrauen der VorarlbergerInnen in die Überlebensfähigkeit Österreichs nach dem Habsburg-Imperium war enden wollend. Diese Umstände waren der optimale Nährboden für die schnelle Verbreitung der Idee eines Anschlusses an die Schweiz. An der Spitze der Bewegung stand der Lustenauer Lehrer und begabte Redner Ferdinand Riedmann, der allen voran unter der Parole “Wien kennt die Vorarlberger nicht” dafür eintrat, das Selbstbestimmungsrecht der VorarlbergerInnen in Anspruch zu nehmen.
Der Hoffnungsschimmer Schweiz
Nicht nur kulturell und sprachlich fühlten sich die alemannischen GsibergerInnen den SchweizerInnen näher, insbesondere prophezeite wirtschaftliche Vorteile und der Ärger über den Wiener Zentralismus fanden hierzulande schnell Anklang. Meinrad Pichler fasste die wesentlichen Argumente der Anschluss-PropagandistInnen im Gespräch folgendermaßen zusammen:
- Antiurbanismus mit dem Hauptfeind Wien als verkommene Großstadt, von der die ländliche Bevölkerung nichts zu erwarten hat
- ein antisozialistischer Reflex bei gleichzeitiger Bedeutungslosigkeit des Kommunismus und der Sozialdemokratie in der Schweiz
- geltende Schweizer Volksrechte
- Schweizer Persönlichkeiten, die für das Wohl ihrer BürgerInnen einstehen
- Vorarlberg als eigenständiges Volk, das seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen muss
Szenario 2019: Ist ein solches Abstimmungsergebnis erneut denkbar?
Schlussendlich kam ein Anschluss aufgrund Schweizer Vorbehalte und den Verträgen von St. Germain nicht zustande, dennoch beschäftigt die Thematik noch heute. Auf die Frage, wie eine solche Abstimmung ausgehen würde, wenn Vorarlberg erneut in eine ähnliche wirtschaftliche Lage kommen würde, zeigte sich der Historiker skeptisch: „Solche Stimmungen können schnell erzeugt werden. Wir sehen heute politische Bewegungen in ganz Europa, die noch vor 10 Jahren undenkbar gewesen wären. Gleichzeitig ist das Vorarlberger Österreich-Bewusstsein vielleicht nicht so gefestigt, wie gedacht.“ Abschließend betonte Meinrad Pichler die Wichtigkeit, eben diese Ereignisse aus der Vorarlberger Zeitgeschichte weiterzutragen. „Historische Literatur erreicht durchschnittlich nur 20 Prozent der Bevölkerung“, hält der Historiker fest. Grund genug, sich mit unserer Landesgeschichte in solchen spannenden Gesprächsformaten zu beschäftigen.