Kamingespräch mit Seyran Ates
Unaufhaltbar – ein Begriff, der Seyran Ates perfekt beschreibt. In ihrem Kampf für eine liberalere Auslegung des Islam und für die Förderung von Frauenrechten in der muslimischen Gesellschaft lässt sie sich durch nichts aufhalten. Selbst 100te Morddrohungen, körperliche Angriffe und sogar ein Attentat, das sie nur knapp überlebte, können sie nicht von ihrer Mission abbringen. Sie schwebt in so großer Gefahr, dass sie seit 2006 permanenten Personenschutz benötigt.
All das schränkt sie ein, aber die vielen positiven Rückmeldungen auf ihre Handlungen geben ihr die Kraft weiterzumachen. Viele sind der deutschen Rechtsanwältin mit türkisch-kurdischen Wurzeln dankbar, dass sie Dinge tut, die sich sonst keiner traut. So gründete sie unter anderem 2017 die Ibn-Rushd-Goethe Moschee in Berlin. Diese bietet einer liberalen Islamauslegung eine Heimat. Es ist ihr ein großes Anliegen, dass der Islam endlich zeitgenössisch interpretiert wird. Darunter fällt für sie insbesondere auch die geschlechtergerechte Auslegung des Koran und der Hadithen. Für sie wichtig sind die fünf Säulen des Islam: Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Pilgerfahrt. Viele andere, allgemein aber dennoch als äußerst wichtig wahrgenommene islamische Regeln, wie beispielsweise die Kopftuchpflicht oder das Verbot von Schweinefleisch und Alkohol, lehnt sie ab, da diese rein historisch bedingt seien und nach ihrer Auslegung heute keine Relevanz mehr haben.
Sie erklärte uns auch, wieso es keine absolut gültige Islamauslegung geben kann und deshalb auch – abgesehen von den fünf Säulen – keine Regel unumstößlich ist. Begründet wurde dies damit, dass es verschiedene Strömungen im Islam gibt, allen voran Sunniten, Schiiten und Alewiten, die sich in vielen Regeln unterscheiden. Würde es aber eine „richtige“ Strömung geben, könnten nicht alle davon „richtige“ Muslime sein. Um ihre Islamauslegung noch besser wissenschaftlich zu begründen, studiert sie seit kurzem nebenberuflich Islamwissenschaften. Damit kontert sie die Kritiker aus fundamentalen Kreisen, die ihr vorwerfen keine entsprechende religiöse Ausbildung zu haben.
Ihr neuestes Projekt ist die europäische Bürgerinitiative „Stop Extremism“, die sie zusammen mit den Österreichern Efgani Dönmez und Sebastian Reimer ins Leben gerufen hat. Die Initiative will unter anderem eine einheitliche europäische Definition von Extremismus jeglicher politischen, religiösen oder weltanschaulichen Richtung schaffen. Außerdem sollen Finanzierungsquellen von Extremisten ausgetrocknet und öffentliche Institutionen vor extremistischen Einflüssen geschützt werden.
Raphael Fritz
Stipendiat 2018